Die sechs Harmonien
Oft wird der harmonische Fluss und die Eleganz der Qigong-Bewegungen bewundert. Diese beruhen auf den so genannten drei äußeren und drei inneren Harmonien. Jede Bewegung wird achtsam im äußeren Erscheinungsbild koordiniert und mental von innen her aufgebaut.
Ein bewusster, entspannter und dennoch fester Stand der Füße gibt den Übenden das Gefühl, im Boden verwurzelt zu sein und ihren Standpunkt sicher zu behaupten. Ein sicherer Stand, verbunden mit gleichmäßiger Atmung, wirkt beruhigend auf die Psyche.
Der Geist kommt zur Ruhe und kann aus dieser offenen, wachen Aufmerksamkeit heraus die Intention einer Bewegung aufrufen; das Qi folgt dieser Intention und führt die Körperkraft von innen nach außen - bis in die Fingerspitzen. Diese Erfahrung lässt sich auf das Alltagsleben übertragen und hift uns, auch unerwarteten Situationen und unseren Mitmenschen ruhig, aufrecht und selbstsicher zu begegnen.
Vergleichbar dem spiraligen Aufbau eines Schneckenhauses entfalten sich die Bewegungen im Qigong von innen nach außen: ein winziger Bewegungsimpuls in der Vorstellung ("Yi") aktiviert die Energie im Körper ("Qi"), die dann über die Muskelkraft ("Li") und eine gleichzeitige Entspannung ("sung") der Gelenke und Faszien die Gliedmaßen in eine koordinierte Bewegung bringt. Das gilt sowohl körperlich (drei äußere Harmonien) als auch mental (drei innere Harmonien). Oft wird durch eine vorangehende Bewegung eine Vorspannung aufgebaut, also Energie gespeichert, die dann nur noch wieder freigesetzt werden muss.
Am Beispiel der Übung "Das Yuan Qi veredeln" aus dem Hui Chun Gong kann man das gut nachvollziehen.
Die Übung "Das Yuan Qi veredeln" aus dem Hui Chun Gong baut sich aus mehreren Phasen auf:
- Schließen: Die Intention oder Vorstellungskraft ("Yi") lenkt Energie ("Qi") in die linke Hand und die rechte Hüfte. Die Muskulatur des linken Arms und der rechten Hüfte werden aktiviert ("Li"), die Hand "führt" den linken Fuß zum rechten hin, bis das linke Knie und der linke Oberschenkel einen Druck auf das rechte Bein ausüben; dabei dreht sich die rechte Hüfte im Gelenk ein ("schließende" Bewegung) . Gleichzeitig wird vom "Yi" her, aus der Vorstellung heraus das "Qi" aktiviert, das die Muskeln der linken Schulter dazu bringt, den linken Ellbogen gegen den Rumpf zu führen und die linke Hand eng vor den Unterleib bewegen ("schließende" Bewegung). Der rechte Oberarm liegt ebenfalls noch am Rumpf an, die Handfläche ist dem Gesicht zugewendet ("geschlossene" Haltung). Dieses Schließen führt in der rechten Hüfte und Schulter zu einer Spannung in Muskeln und Faszien, einem Speichern von Energie durch die Ansammlung des "Qi". Der ganze Körper "schließt" sich zur rechten Seite hin.
- Steigen und Sinken: Das "Yi" löst die Spannung (also die Qi-Konzentration) im rechten Arm, der nach unten sinkt und die Hand bis in Hüfthöhe "mitnimmt". Das dort gespeicherte "Qi" wandert in den linken Arm und mobilisiert dort die Muskelkraft "Li", die die Hand eng am Körper nach oben führt.
- Öffnen: Das "Yi" gibt an die rechte Hüfte und die linke Schulter den Impuls zu entspannen ("sung"). Das dort gespeicherte Qi wird freigesetzt: Der linke Arm dreht von selbst im Schultergelenk nach außen, nur die Hand muss noch etwas weiter nach außen gewendet werden. In gleicher Weise kann das Becken in der Hüftgelenkspfanne auf dem Oberschenkelkopf zurückdrehen, die rechte Hüfte öffnet sich und der linke Fuß rotiert fast wie von selbst in den Schritt nach links. Der ganze Körper "öffnet" sich nach links.
Danach baut sich die ganze Bewegung in der Gegenrichtung zur linken Seite hin auf.
Im Qigong (wie auch im Taijiquan) geht es oft darum, dem Körper nach einer aus der Vorstellung heraus gelenkten Vorbereitung (in diesem Beispiel dem Schließen) zu erlauben, sich ganz natürlich zu entspannen. Dabei entfaltet sich dann wie von allein eine Bewegung, wir müssen sie nur geschehen lassen. Diese Entspannung geht (wie auch zuvor das Aufbauen der Spannung) immer vom Becken aus, vom unteren Energiezentrum ("Dantian"), das über die Beine und Füße mit der Erde verbunden ist.
Der mentale Impuls aus der Vorstellungskraft, das "Yi", ist dabei von entscheidender Bedeutung. Auch wenn man die Bewegung nicht wirklich ausführt, kann man spüren, wie dieser Impuls über das "Qi" transportiert wird und in den Muskeln "ankommt". Aus diesem Grund ist es nach längerem Training möglich, eine ganze Qigong-Form auszuführen, ohne sich dabei äußerlich zu bewegen - und trotzdem dieselbe oder sogar eine bessere Wirkung zu erzielen. Wang Xiang Zhai, ein großer Kampfkunst-Meister, hat einmal gesagt: "Eine kleine Bewegung ist besser als eine große Bewegung. Keine Bewegung ist besser als eine kleine Bewegung. Ruhe ist die Mutter aller Bewegungen." Bis es soweit ist heißt es aber: Üben, üben, üben...